„Windows 10 on ARM“ auf einem Lumia 950 XL – Endlich wieder ein Taschen-PC

Dies ist ein Gastbeitrag von Kevin Puschak (kupuexe). Vielen Dank dafür!

Das Microsoft Lumia 950 XL stellte Ende 2015 das Flaggschiff-Modell der Smartphone-Reihe dar, zusammen mit dem kleineren Lumia 950. Auf dem Papier klingt es selbst für die heutige Zeit noch nach einem vernünftigen Mobiltelefon: 5,7“-Display, 2560×1440 Pixel, 20-Megapixel-Kamera mit 4K-Videoaufnahmefunktion, Qualcomm Snapdragon 810, 3 GB RAM und 32 GB interner Speicher, der sich mithilfe einer bis zu 200 GB großen microSD-Karte erweitern lässt. Man kann sogar den Akku austauschen.

Mit „Windows 10 Mobile“ befindet sich ein flüssig zu bedienendes Betriebssystem auf dem Lumia, welches allerdings mit der Vielzahl an Apps bei der Konkurrenz nicht mithalten konnte und fast schon in die Bedeutungslosigkeit abrutschte. Das ging so weit, dass der Support am 14. Januar 2020 eingestellt wurde. Schade, denn das System ist logisch aufgebaut und machte auf meinen Testgeräten keinerlei Probleme, solange die Akkus mitspielten.

Findige Tüftler haben allerdings ein Projekt ins Leben gerufen, welches meine Aufmerksamkeit hatte: ein vollwertiges Windows 10 auf dem Lumia 950 (XL). Also genau das Windows, was zahlreiche Nutzer vor ihrem großen Schirm haben, wenn sie nicht gerade Linux oder macOS verwenden. Nur mit dem Unterschied, dass nicht die x86- oder x64-Version ausgeführt wird, sondern die ARM64-Variante. Diese probierte ich einst am Raspberry Pi aus.

Die notwendigen Dateien für den Bootloader-Unlock werden heruntergeladen.

Die Voraussetzungen sind dabei gar nicht so schwer: ein Lumia 950 (XL) mit einem freigeschalteten Bootloader, um den so genannten „Mass Storage Mode“ verwenden zu können, ein USB-Kabel (sollte im Lieferumfang enthalten sein) und ein Image von Windows 10 ARM64. Auf der GitHub-Seite des WoA Deployers kann man sich alles notwendige herunterladen. Als Image verwendete ich ein Cumulative Update der Version 1909.

Mit „WPInternals“ kann der Bootloader-Prozess durchgeführt werden. Hierfür müssen zum Modell passende FFU- und Emergency-Dateien heruntergeladen werden. Im Regelfall erkennt das Programm anhand des angeschlossenen Lumias die notwendigen Dateien und lädt diese herunter. Diese werden benötigt, um den Bootloader freizuschalten, was im Anschluss passiert. Wenn das fertig ist, kann das Telefon in den „Mass Storage Mode“ versetzt werden und es kann mit dem „WoA Deployer“ fortgefahren werden.

Bis es soweit war, hatte ich leider mit vielen Problemen zu kämpfen gehabt. Eines meiner zwei Lumia 950 XL zickte bei dem Bootloader-Prozess dauernd rum. Entweder stürzte die Software bei Herunterladen der notwendigen Dateien ab oder der Unlock-Prozess scheiterte nach den insgesamt 64 Versuchen. Das habe ich soweit getrieben, bis sich das Smartphone überhaupt nicht mehr einschalten ließ. Letzten Endes musste ich es von Jan Backer (@Degu2online) wiederbeleben lassen, der mir beim ganzen Prozess mit Rat und Tat zur Seite stand. Mit einem anderen Lumia 950 XL klappte alles problemlos.

Wenn das Smartphone im „Mass Storage Mode“ ist, kann im „WoA Deployer“ das Windows 10 ARM64-Image ausgewählt werden. Im Tool kann noch ausgewählt werden, ob „Windows 10 Mobile“ auf dem internen Speicher bleiben oder weg soll. Selbst Dual Boot ist möglich, aber für den Test habe ich alles auf Standard gelassen. Für den Vorgang muss das Smartphone vorher zu 100% vollgeladen sein. Auch wenn es dabei die ganze Zeit am PC mit einem USB-Kabel verbunden ist, werden nur Datenübertragungen durchgeführt. Mit einem Akkustand von 97% ging ich das Risiko ein, dennoch mit dem Deploy-Vorgang zu beginnen. Dabei werden sämtliche Treiber und ein Developer Menu installiert. Nach einer Weile ist alles fertig und es befindet sich ein vollwertiges Windows auf dem Lumia.

Der Desktop von Windows 10 on ARM auf dem Lumia 950 XL hochkant.

Beim Bootvorgang taucht ein Menü auf, in dem man auch ein Developer Menu aufrufen kann. Sonst wartet man entweder 30 Sekunden oder wählt mit der Kamera-Auslösetaste den Eintrag „Windows 10“ aus. Einen typischen Windows-Bootscreen gibt es nicht zu sehen, aber die bekannte Windows-Einrichtung (Benutzername, Kennwort, Datenschutz-Gedöns) taucht auf, die sich problemlos mit dem Touchscreen bedienen lässt. Selbst wenn die Oberfläche etwas klein ist, mit meinen Fingern lassen sich die Elemente noch ganz vernünftig erwischen. Für Texteingaben taucht eine virtuelle Tastatur auf. Lediglich beim Netzwerkteil hing die Einrichtung. Nach einiger Zeit lässt sich der Desktop blicken.

Durch die Tatsache, dass das Display eine 1440p-Auflösung aufweist und die empfohlene Skalierung 200% beträgt, wirkt das Windows 10 auf dem Lumia 950 XL zwar sehr detailliert, aber die ganzen Bedienelemente sind trotzdem ziemlich klein. Es gibt allerdings nur hier und da einige Stellen, die sich mit normal-dicken Fingern schwer erwischen lassen. Mit einer 300-prozentigen Skalierung ist die Oberfläche groß genug, aber einige Fenster sind dann nicht mehr vollständig zu sehen.

Was definitiv auffallen wird, ist die etwas niedrige Farbtiefe. Auf Twitter meinte jemand dazu, das Hintergrundbild sähe aus, als hätte es nur 256 Farben. Das hat zur Folge, dass die Transparenzeffekte sehr eigenartig wirken und wie Grafikfehler aussehen. Es sieht lediglich eigenartig aus, hat aber auf die Leistung oder auf die Stabilität keinerlei Einfluss. Wer das dennoch nicht mag, kann die Transparenzeffekte deaktivieren und das Problem ist nicht mehr sichtbar.

Trotz Octa-Core-Prozessor ist die Performance nicht die allerbeste. Zwar ist sie annehmbar und der Prozessor ist im Idle nicht ausgelastet, aber mehr als Netbook-Leistung darf man nicht erwarten. Von den 3 GB Arbeitsspeicher werden ein paar MB für die Grafik abgezwackt, trotzdem ist hier die Auslastung die größte. Zudem läuft Windows auf einem eMMC-Speicher, der einem nicht viel Luft zum Speichern übrig lässt, sofern man an den Einstellungen im „WoA Deployer“ nichts verändert, auf C sind sogar nur 2 GB frei. So viel Speicherplatz hatte ein Standard-PC im Jahr 1996.

Der Task-Manager zeigt die hohe Auslastung beim Arbeitsspeicher.

Die leicht maue Performance macht sich spätestens beim Surfen im Internet bemerkbar. Die beste Erfahrung wird man – ja, man mag es kaum glauben – mit dem vorinstallierten Edge-Browser haben, der in dieser Variante noch nicht auf Chromium basiert. Zumindest Internetseiten, die nicht viele Ressourcen benötigen, lassen sich halbwegs angenehm bedienen. Seiten wie „YouTube“ wollten nicht richtig laden oder ruckelten sehr stark. Beim nachinstallierten Google Chrome als x86-Version ruckeln selbst leichte Internetseiten etwas mehr als bei Edge. Dann doch lieber einen Browser in einer ARM64-Version. Mit einer App aus dem Microsoft Store gab es für das Problem mit YouTube immerhin einen Workaround.

Man muss aber positiv bemerken: es funktioniert schon einiges. Der Helligkeitssensor kann die Helligkeit regeln, man hört Töne durch die Lautsprecher, dank funktionierenden WLAN kann man ins Internet, Bluetooth geht ebenfalls. Durch die App „Airwaves“ und am Telefon angeschlossene Kopfhörer zeigt sich, dass sogar Radiohören über UKW möglich ist. Selbst Mobilfunk ist möglich. Über eine Vodafone-SIM-Karte ist es mir gelungen, mit einem Kollegen zu telefonieren. Leider muss mein Gesprächspartner auflegen, denn ich sehe keinerlei Informationen über den Anruf. SMS empfangen und schreiben geht ebenfalls. Mein Gesprächspartner hat mich sehr gut verstanden, das zeigt: das Mikrofon funktioniert auch. Einziger Wermutstropfen: Windows erkennt keines der beiden Kameras. Damit ist Videotelefonie oder Fotos machen unter Windows 10 tabu.

Der USB-C-Anschluss auf der Unterseite funktioniert. Allerdings lässt sich die Funktionsweise verändern durch einen „USB Function Mode Switcher“, der mitinstalliert wird. In meinem Test habe ich die Funktion „Host mode (Power output disabled)“ ausgewählt. Damit lässt sich etwa das Microsoft Display Dock HD-500 verwenden, welches eigentlich dazu da ist, „Windows Continuum“ auszuführen. In dem Fall arbeitet es wie ein gewöhnlicher USB-Hub mit Stromversorgung. USB-Hubs ohne zusätzliche Stromversorgung funktionieren in diesem Modus nicht. Während USB-Geräte wie Tastatur, Maus oder USB-Sticks problemlos erkannt wurden, wurden bedauerlicherweise keine am Display Dock angeschlossenen Monitore erkannt, sei es über HDMI oder DisplayPort. Das hätte aus dem Lumia 950 XL einen passablen Mini-PC machen können.

Nachdem Windows ein Update installiert hat, ist das System sogar recht stabil. Vorher ist es gelegentlich abgestürzt, meistens im Standby-Modus, der nach wenigen Sekunden automatisch kommt. Beim Start des Systems wurden zu gerne auch Bluescreens oder andere Fehlermeldungen angezeigt, die von einem beschädigten System schrieben. Diese verschwanden nach einem erneuten Start allerdings. In meinem Fall war die Akkulaufzeit nicht die beste und lässt sich mit Standard-Notebooks der letzten Jahre vergleichen: nach gut und gerne 5 oder 6 Stunden möchte das Lumia geladen werden.

„DOSbox“ mit „DOOM“ (1993).

Ansonsten hatte das Display beim Starten gerne einen starken Gelbstich gehabt, der aber unmittelbar nach dem Login verschwand. Die Uhrzeit und das Datum konnte sich das Windows nicht einprägen, konnte beides aber dank Internet-Synchronisation sich wieder schnappen. Einen kleinen Performancetest machte ich mithilfe von „DOSbox“ und der Shareware-Version von „DOOM“ aus dem Jahr 1993. Ohne veränderte Grafikeinstellungen ruckelte das Spiel ungefähr so, als würde man es auf einem leicht schwachen 386er spielen (für die jüngeren: es ruckelte ziemlich stark). Und wer auf eine Skalierung verzichtet, darf wegen der hohen Auflösung von 2560×1440 Pixel mit einem winzigkleinen Fenster spielen.


Tja, der ganze Bericht klang bisher überwiegend negativ, oder? Nicht ganz. Klar, Windows 10 ARM64 ist auf dem Lumia keine Rakete, aber es ist faszinierend genug, aus dem Microsoft Lumia 950 XL damit einen UMPC gemacht zu haben. Und wenn man bedenkt, wie viel mit Windows on ARM schon funktioniert und wie hoch die Gebrauchtpreise für ein Microsoft Lumia 950 XL sind, hat man im Nachhinein betrachtet sogar einen recht günstigen. Nur ohne richtige Tastatur. Ein wahnsinnig spannendes Projekt, das einem ein weiterhin gepflegtes Betriebssystem auf dem leider zu schnell obsolet gewordenen Lumia zaubert. Jetzt muss nur noch jemand Android auf dem Teil zum Laufen kriegen.

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25 Kommentare zu “„Windows 10 on ARM“ auf einem Lumia 950 XL – Endlich wieder ein Taschen-PC

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